Das Blättchen

Recht früh plumpst durch die Haustürritze
das Blättchen taufrisch aus der Presse.
Ganz hinten abgeschabte Witze,
die kaum gelesen, ich vergesse.
Dann steht wer starb, wer sich vermählt
und wer das Licht der Welt geschaut.
Scheidungen bleiben ungezählt.
Hingegen steht, was wo geklaut.
Vom Hund, der bei der Rentnerin
- verschmutzt, verhungert, krank -
ein Obdach fand, das steht nicht drin.
Es ist nicht von Belang.
Rekorde hoch und weit und schnell
und Tore, Treffer, Siege
und an uns alle der Appell
zu spenden gegen Kriege.
Ganz vorn mit einem Konterfei
schreibt jemand was Banales
und zwischen Brot und Frühstücksei
ein Wimpernschlag Lokales.
Der Streit geht um des Kaisers Bart,
um Sicht und Gegensicht,
ob vorne man, ob hinten spart.
Gottlob um mehr geht's nicht.
Dann ist das Blatt Vergangenheit.
Zukunft gibt's wieder morgen.
Ein bißchen Klatsch, ein bißchen Streit,
ein matter Spiegel uns‘rer Zeit.

Nun muß ich's noch entsorgen.

© 1999 Christine Zickmann

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